Quadriga zügellos

Im Jahr 2000 veranstaltete Ursula Stock die Ausstellung „Quadriga zügellos“ im Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin.

 

Zu den ausgestellten Objekten siehe: Skulpturen und Zeichnungen.

 

Ludger Hünnekens: Brüche, Fesseln & Gestänge – eine Annäherung an die Figurenrätsel von Ursula Stock

Ausstellungsplakat
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Sei es Fiktion oder Realität, Retrolook oder Prospektion, es ist der persönliche Blickpunkt des Betrachters, sein eigener Deutungsversuch, der hinter die Fassaden dieser merkwürdigen Gestalten führt. Medien erprobt, mit allen Bildern gewaschen, hart gesotten, und durch keine Groteske mehr zu erschüttern, halten wir der täglichen Informationsflut stand oder suchen wie im Rausch schon den ultimativen Overkill. Ursula Stock hält die Bilder an, ihre Figuren gefrieren im rasenden Stillstand (siehe Bildergalerie): langgestreckte Pferdehälse, die nicht enden wollen (cavallo lungo), ein Flieger, der niemals abhebt (Flieger), die Fackelträgerinnen im Streitwagen, deren Pferde schon durchgebrannt sind (Zwei Berolinen) oder umgarnte Köpfe (Janus verkabelt) und gefesselte Torsi (Schnurtorso). Dies sind Momentaufnahmen gewissermaßen im Strom unseres Gedankenwirrwarrs, überreizter Assoziationen und skurriler Phantasien. Die erstarrte, im Bild gefesselte Bewegung erlaubt den Blick in Abgründe, entlarvt den schönen Schein doch nur als Trugbild. So stehen die Figuren also auf dem Prüfstand. Verunsichert nähern wir uns ihnen, argwöhnisch umkreisen wir sie, und wir trauen unseren Augen nicht, schauen wir in unser Spiegelbild. Ein übertragener Sinn zweifelsohne, der sich hinter der glatten, glänzenden Oberfläche der Skulpturen verbirgt.

 

Ursula Stock hat für ihre Ausstellung im großen Innenhof des Hauses der Deutschen Wirtschaft in Berlin-Mitte vier Skulpturenqruppen ausgewählt, die eine überraschende Verbindung zu dem architektonischen Ambiente eingehen. Das glasüberdachte, lichtdurchflutete Forum hat fremdartige, nie gesehene Besucher bekommen: vollplastische hohe Figuren, Köpfe, Torsi und Büsten auf Stelen und Säulen, dann Pferde, Reiter, Pferdeköpfe und schließlich die zügellose Quadriga, eine Hommage vielleicht an ihre große Schwester auf dem Brandenburger Tor, der Berlin-Bezug ist also hergestellt.

 

Ursula Stock ist ursprünglich Malerin, in der Flächigkeit und den konturbetonenden Reihen mancher ihrer bildhauerischen Arbeiten, die mitunter wie Reliefs gestaltet sind, setzt sich die zweidimensionale Formgebung fort. Diese Arbeiten brauchen einen Hintergrund; die Kulisse aus Glas, Holz und Stein, das Wechselspiel stumpfer und glatter Materialien, die Licht- und Schattenpartien des Berliner Ausstellungsraumes bilden eine entsprechende, spannungsreiche Folie. So wird der Raum zur Bühne, die Figuren sind die Akteure, die Besucher die Statisten. Aber sie treten unweigerlich miteinander in einen Dialog, setzen sich gegenseitig in Bewegung und entwickeln gemeinsam eine meditative, stille Handlung. Die laute Aktion der Außenwelt ist hier zur Ruhe gekommen, die Figuren sind erstarrt, gebändigt und gefesselt. Der Besucher nimmt ihre Bewegung auf, setzt sie in Gedanken fort und erzählt ihre Geschichten weiter. So betreten die Figuren die Innenwelt unserer Stimmungen, unserer Empfindungen, unserer Seelenwelt. Wir hören den wehklagenden Ruf gequälter Kreaturen, das mahnende Feldzeichen, den Schrei auf den Lippen, der nicht wirklich befreien kann. Wir sehen die gespaltene Person, den eingezwängten Körper im kunstvollen Netzwerk. Wir fühlen den Zwiespalt von Schönheit und Schmerz, Freiheit und Zwang, von Schein und Sein in der Innenwelt der Außenwelt. Das ist eine schmerzhafte, aber auch reinigende Erfahrung:das Traumbild nicht als Halluzination zu erleben, sondern in der Figurenwelt das eigene Spiegelbild zu sehen, vielleicht eine Lösung des Rätsels zu finden, die surrealert Motive zu entschlüsseln und sie auf eine neue, ganz persönliche Gedankenkette zu ziehen.

 

Die Figuren von Ursula Stock bleiben ambivalent wie der doppelköpfige Janus. Sie sind mehrschichtig im formalen Aufbau, in der Verwendung der Materialien und in der komplexen inhaltlichen Struktur. Sie sind streng, statuarisch, erdverbunden; dennoch wirken sie zerbrechlich, fragil, empfindsam. Ihre Geschlossenheit im Netzwerk steht im Kontrast zum Drang nach Bewegung, zur Öffnung, zur Mitteilung. Was so entrückt erscheint, nicht von dieser Welt, Zitate antiker Mythen, fremdartige Mischwesen, coole Dämonen, es trägt doch menschliche Züge, zeigt Emotionen, Schwächen, weckt Mitgefühl. So fügen sich Figurenfragmente zu einem Sinnbild, zum Reflex auf Menschlichkeit mit all ihren Nöten, existentiellen Fragen, Unsicherheiten, individuellen Stimmungen. Ursula Stocks Figuren nehmen ihre Masken ab und erinnern an die Bedingungen des menschlichen Lebens – ein zentrales Thema der Kunst.

Quelle:

Lüdger Hünnekens; Ursula Stock (Illustration): Ursula Stock, Quadriga zügellos, [Güglingen] 2000, Seite [2-3].