Irrgarten möbliert
Im Jahr 2008 übergibt Ursula Stock der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin die Skulptur „Quadriga zügellos“ und das Ensemble „Irrgarten möbliert“ als Dauerleihgaben.
Petra von Olschowski: Ursula Stock – Irrgarten - möbliert
Nicht jeder Weg führt zum Ziel. Wer mit den Fingern die schmalen Stege auf den von Ursula Stock geschaffenen Stuhllehnen und Tischplatten entlangfährt – so wie man das früher bei den Fingerlabyrinthen der Kirchen machte, um als Büßer die Pilgerreise nach Jerusalem symbolisch zu begehen –, der muss mit Sackgassen rechnen, mit plötzlich abbrechenden Linien und falschen Abzweigungen. Es ist eine Art linearer Irrgarten, den die Künstlerin da auf kleinem kreisrundem Format angelegt hat. Das medaillonartige Bild der Berliner Quadriga steht als Fixpunkt im Zentrum einer reizvollen ornamentalen Komposition, die stärker grafisch als skulptural wirkt und die in ihrer feinen Durchbrochenheit und dekorativen Klarheit entfernt an die Möbel von Charles Mackintosh erinnert.
Ursula Stock, die ihren künstlerischen Weg als Malerin begann und später vor allem als Bildhauerin bekannt wurde, hat in ihrem Schaffen die Grenzen zwischen den künstlerischen Sparten immer wieder aufgebrochen. Sie hat für den öffentlichen Raum gearbeitet, Kunst am Bau und für Kirchen realisiert, sie hat Brunnen, Alltagsgegenstände und Möbel entworfen, auch wenn das Hauptaugenmerk ihrer Arbeit auf dem freien skulpturalen Werk liegt. Kunst hat für sie mit dem Leben zu tun, sollte im besten Sinne ästhetisch bilden. Und so sucht sie den direkten Kontakt zum Publikum, das über das Betrachten hinaus zum beteiligten Nutzer wird. Auch ihre langjährige Lebensgemeinschaft mit dem Architekten Heinz Rall hat sie in dieser Richtung geprägt. Gemeinsam haben sie die Stadt Güglingen, in der beide lebten und Ursula Stock heute noch beheimatet ist, gestaltet und in den Weinbergen des Zabergäus einen besonderen, künstlerischen Ort geschaffen.
Dabei schöpft die Künstlerin in ihrer Arbeit kenntnisreich aus dem Wissens- und Formenschatz, den Gegenwart und Vergangenheit ihr bieten. Prof. Günther Wirth hat bereits in Zusammenhang mit der Berliner „Quadriga“-Serie auf die Bedeutung des Mythologischen und Antikischen in ihrem Werk aufmerksam gemacht, auf die Bezüge zum Surrealismus, aber auch auf die Rolle, die Humor und Ironie spielen: Überraschend wird die Bedeutungsschwere immer dann aufgebrochen, wenn man am wenigsten damit rechnet, oft ausgelöst durch Ursula Stocks raffinierten Umgang mit der Sprache und den Bildtiteln. Das gilt, obwohl die menschlichen Figuren und Tiere, die sie aus Bronze, Eisen oder Edelstahl formt, meist schwer und leidend wirken, verpanzert, verschlossen, oft auch kriegerisch.
Gerade in den vergangenen Jahren aber schafft eine gewisse Leichtigkeit Raum für neue Aspekte. Ein wichtiges Thema sind dabei seit mehr als zehn Jahren die
Variationen rund um das Brandenburger Tor und die von Johann Gottfried Schadow 1793 gefertigte Quadriga mit der geflügelten Siegesgöttin Nike. Zu dem Komplex gehören Skulpturen, Zeichnungen und
Möbel. Das Brandenburger Tor wird zitiert als Symbol für die jüngste und die ältere deutsche Geschichte und als Zeichen für Macht und Machtmissbrauch, für Teilung und Vereinigung, für
Zukunftsvisionen und die Verarbeitung von Vergangenheit: „Brandenburqer Torheiten“ nennt die Künstlerin diese Reihe. Die Baukultur der deutschen Hauptstadt
wird von Ursula Stock in großformatigen Zeichnungen ebenso kritisch beleuchtet wie das Holocaust-Mahnmal – oder der Einzug der ersten Frau im Bundeskanzleramt: als „Black Angel“ auf einer
umkippenden Siegessäule. In diesem Zusammenhang ist es kein Wunder, dass die Quadriga – ein von einem offenen antiken Streit- oder Triumphwagen aus gelenktes Vierergespann – bei ihr zügellos
davonrast und „Viktoria“ – so wie ihre Schwester, die antike „Nike von Samothrake“ – immer noch kopflos dem nächsten Sieg entgegen schwebt.
Was bei Ursula Stock zunächst so eindeutig und schlüssig erscheint, offenbart auf den zweiten Blick fast immer einen doppelten Boden. Die alte Welt der Mächtigen ist aus den Fugen geraten und hat noch keine neue, adäquate Form gefunden – darauf spielt Ursula Stock an, auch wenn ihr selbst alles Regellose und Chaotische in der künstlerischen Handschrift fremd sind.
So möbliert Ursula Stock diesen „Irrgarten“ Berlin erst einmal, versucht ihm eine eigene, fantasievolle Ordnung zu geben, kreiert die passenden Tische und Stühle aus silbrig glänzendem Aluminium, deren verbindendes Element ein entweder in die Tischplatte geprägtes oder aus der Stuhllehne geschnittenes Labyrinth ist. In der europäischen Kulturgeschichte spielen diese verschlungenen Wegesysteme, die meist zu einem zentralen Mittelpunkt führen, eine wichtige Rolle. Zum Bedeutungsträger aber wurde es vor allem durch den griechischen Mythos vom Labyrinth des Dädalos auf Kreta, in dem der bedrohliche Minotauros gefangen gehalten wurde. Jeder Krieger, der dieses Mischwesen aus Tier und Mensch töten wollte, verirrte sich in dem verwinkelten Bauwerk. Erst Theseus gelang es mit Hilfe des Ariadne-Fadens, den Minotauros zu besiegen und wieder herauszufinden.
Der christliche Glaube gab dem Zeichen später neuen Sinn: Es stand nun für das Leben selbst mit all seinen Prüfungen und Komplikationen, aber auch für den mühsamen Weg ins Heilige Land und zu Gott – in vielen Kathedralen findet man daher Labyrinthe auf dem Fußboden oder als Reliefs. Das Barock wiederum liebte das zum gesellschaftlichen Spiel verführende Gartenlabyrinth. Zugleich steht es vielerorts für die Windungen des menschlichen Gehirns oder der Seele. Welche Variante man auch immer wählen mag – bis heute geht eine Kraft vom labyrinthischen Zeichen aus, bei der nicht allein der Weg zum Ziel erklärt wird, sondern bei dem alles um einen Mittelpunkt kreist, der Sinn und Zusammenhalt bietet.
Ursula Stocks Labyrinthe haben mit den oben genannten vor allem die Form gemein, inhaltlich geht die Bildhauerin eigene Wege. Bei den Stühlen ist das Medaillon der Quadriga sogar aus der eigentlich üblichen Mitte nach oben verschoben. Auch sonst spielt sie mit der Überlieferung: In gewisser Hinsicht gleichen ihre Muster eher strahlenden Sonnen, in deren fein poliertem Metall sich das Licht des Himmels spiegelt. Auch das Motiv des Auges, das in Ursula Stocks Arbeiten immer wieder auftaucht, klingt an. Zudem variiert die Medaillongestaltung in der Mitte: Nicht nur der preußische Adler krönt den Stab der Göttin – die Nike hält immer mal wieder ein anderes Fähnchen in die Luft, sie ist keine Siegesgöttin im klassischen Sinn mehr, die weiß, wem allein der Ruhm gebührt. Die Zeiten und Sichtweisen ändern sich zu schnell. Auch der alte Theseus taucht wieder auf. Ursula Stock zeigt ihn in dem Moment, in dem er den Minotauros erschlägt. Das Ungeheuer ist vernichtet, aber das Schicksal hält noch manch andere Prüfung für den Helden parat.
Als räumliches Arrangement, aber auch als Einzelstücke wirken die Möbel über den Bedeutungsgehalt hinaus leicht, fein, elegant und repräsentativ – als Skulptur, aber auch als lineare Komposition im Raum. Ursula Stocks bildhauerisches Auge spielt mit dem Neben- und Ineinander von geschlossenen und offenen Flächen, von abstraktem Muster und Bedeutungszeichen.
Setzt man sich auf einen der Berliner Stühle, hat man die Geschichte dieses Landes bildhaft im Rücken. Die Quadriga treibt einen voran in die Zukunft – ob zügellos oder kontrolliert, wird sich zeigen.
Textquelle:
Petra von Olschowski; Ursula Stock (Illustration); Heinz Rall (Fotos): Ursula Stock - Irrgarten möbliert, [Güglingen] 2007, Seite3-4.
Bildquellen:
Fingerlabyrinth, Nike von Samothrake, Quadriga, sonst: Ursula Stock.